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Ich hatte Hunderte von Bandaufnahmen und Telefonmitschnitten als Teil meiner Zeugenvernehmung zusammengestellt, doch wir hatten beschlossen, mit meiner eigenen Geschichte anzufangen. Mit dem, was ich selbst gesehen hatte.
»Würden Sie dem Gericht die Ereignisse in Zusammenhang mit Dominic Cavellos Verhaftung beschreiben?«, bat mich Goldenberger.
Ich blickte zu Carol, Manny Olivas Frau, die in
der ersten Reihe saß. Ich war froh, dass sie hier war.
»Wir hatten erfahren, dass Cavello am 23. Juli 2004 an der Hochzeit
seiner Nichte im South Fork Club in Montauk teilnehmen würde. Wir
hatten mehrere offene Haftbefehle.«
»Sie hatten bereits vorher versucht, Mr. Cavello zu
verhaften?«
»Ja. Cavello war allerdings abgetaucht. Es bestand Gefahr, dass er
das Land verließ.«
»Also haben Sie aufgrund dieses Hinweises die Hochzeit beschattet.
Können Sie dem Gericht etwas über die anderen Agenten sagen, die
Ihnen dort geholfen haben?«
»Sicher.« Ich versuchte, wenigstens einen Teil meiner Gefühle zu
unterdrücken, als ich begann, über Manny zu erzählen. »Manny Oliva
war drei Jahre lang mein Stellvertreter in der C10. Er hat direkt
nach seiner Ausbildung in Quantico bei mir angefangen und sich mit
meiner Unterstützung nach oben gearbeitet. Er und seine Frau hatten
gerade erst Zwillinge bekommen.«
»Und Edward C. Sinclair war auch mit Ihnen am Tatort
gewesen?«
»Ed Sinclair war in unserer Einheit ein vorbildlicher Mitarbeiter.«
Ich nickte seiner Frau Maryanne und seinem Sohn Bart zu, die neben
Carol Oliva saßen.
»Können Sie uns die Szene etwas veranschaulichen, Agent
Pellisante?« Joel Goldenberger stellte eine vergrößerte
Luftaufnahme vom Tatort auf eine Staffelei gegenüber vom
Zeugenstand. »Wo genau hielten sich die Agenten Oliva und Sinclair
während der Beschattung auf?«
Ich ging zur Staffelei und griff zu einem Zeigestab. »Sie waren am
Strand außerhalb des Clubgeländes, um Fluchtwege abzuschneiden.«
Ich beschrieb, wie Cavello sich als alter Mann im Rollstuhl
verkleidet hatte. Wie er aufgesprungen war, als meine Agenten
hereingekommen waren, und versucht hatte zu fliehen. Wie er einen
meiner Agenten, Steve Taylor, der als Kellner eingesetzt gewesen
war, erschossen hatte.
»Er rannte Richtung Strand hinunter. Manny und Ed waren in
Position. Hier. Ich gab per Funk durch, dass er den Weg in ihre
Richtung eingeschlagen hatte.«
»Können Sie beschreiben, was als Nächstes passiert ist? Ich weiß,
dass es schwierig für Sie ist, Agent Pellisante, ebenso wie für die
hier anwesenden Familienangehören der Agenten.«
»Ich hörte mehrere Schüsse.« Ich presste die Zähne aufeinander.
»Ich zählte … zwei schnelle hintereinander, dann vier weitere. Ich
rannte von meiner Position aus hinunter über die Dünen und sah die
beiden Männer im Sand liegen.«
Im Gerichtssaal herrschte absolute Stille. Als ich meinen Blick von
der Staffelei abwandte, waren alle Augen auf mich
gerichtet.
»Was haben Sie dann getan?«, fragte Goldenberger weiter.
»Ich bin zu den beiden Männern gegangen.« Ich räusperte mich.
»Manny war tot. Kopfschuss. Ed war in der Brust und am Hals
getroffen worden. Er blutete stark. Mir war klar, dass er im
Sterben lag.«
»Und haben Sie Dominic Cavello gesehen?«
»Er rannte am Strand entlang und versuchte zu fliehen. Er war an
der Schulter getroffen worden. Ich erkannte etwas, das wie eine
Waffe aussah. Er rannte auf einen Hubschrauber zu, der auf einer
Landzunge stand. Ich forderte per Funk Hilfe an, und ein
Hubschrauber, der auf einem Schiff der Küstenwache wartete, sollte
Cavellos Fluchtweg blockieren. Dann rannte ich ihm hinterher und
schoss, wobei ich ihn am Schenkel traf. Während ich nach Hilfe
gefunkt hatte, muss er die Waffe ins Meer geschleudert
haben.«
»Sie haben also keine Waffe mehr gefunden?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Die war nicht mehr zu
entdecken.«
»Aber Sie haben keinen Zweifel, wer Ihre Agenten getötet
hat?«
»Nein, absolut nicht.« Wieder schüttelte ich den Kopf und blickte
dem Angeklagten direkt ins Gesicht. »Dominic Cavello. Als ich diese
Schüsse hörte, befand sich sonst niemand in der Nähe von Manny und
Ed. Und die Kugel, die aus Cavellos Schulter entfernt wurde,
stammte aus Eds Waffe.«
»Nur um hundertprozentig sicher zu sein« – Goldenberger drehte sich
um und sprach mit erhobener Stimme weiter –, »sehen Sie den Mann,
den Sie an dem bewussten Tag in den Dünen verfolgt haben? Den Mann,
der, wie Sie beobachtet haben, von den Leichen der Agenten
fortgelaufen ist?«
»Das war er«, antwortete ich und deutete auf die zweite Reihe.
»Dominic Cavello.«
Während der ganzen Sitzung hatte Cavello stoisch geradeaus
geblickt, doch jetzt hatte er sich mir zugewandt. Gleich sollte ich
erfahren, warum.
Plötzlich sprang er nämlich von seinem Stuhl auf, zog sich über den
Tisch wie ein Wahnsinniger. Sein Gesicht war rot angelaufen, die
Adern an seinem Hals drohten zu platzen.
»Pellisante, du Arschloch! Du dreckiger Hurensohn! Du verlogenes
Stück Scheiße!«
Es ging zu wie im Irrenhaus. »Ihr verlogenen Schweine!«, bellte
Cavello mit heiserer Stimme. Er knallte mit der Faust auf den
Tisch, ließ Blätter und Dokumente aufflattern.
»Und ich scheiß auf dieses Gericht!« Er funkelte die Richterin an.
»Sie haben keine Macht über mich. Sie glauben, Sie kriegen mich,
weil Sie ein paar von meinen alten Feinden bestochen haben, damit
sie Ihnen Ihren Henkelmann tragen. Aber Sie haben einen
Scheißdreck. Ich habe Sie!«
Die Marshals eilten herbei, zwei von ihnen schnappten sich Cavello
und drückten ihn zu Boden. Die Zuschauer schrien, einige liefen aus
dem Saal.
Cavello wehrte sich wie ein rasendes Tier. »Du kriegst mich nicht,
Pellisante! Ich kriege dich!«
Als ein dritter Wachmann zu Hilfe kam, konnten sie ihn endlich
bezwingen. Zwei von ihnen drückten ihn nach unten, während ihm der
Dritte ein Paar Handschellen anlegte, ohne dass er etwas von seiner
Stimmgewalt eingebüßt hätte.
»Dieses Gericht ist ein Witz! Die reine Verarschung! Ihr werdet
mich nie verurteilen, ganz egal, wie viele Verräter und
Telefonmitschnitte ihr habt. Um deine Freunde ist es schade, Nicky!
Aber wer auch immer sie getötet hat, ich würde ihn auf die Lippen
küssen.«
»Schaffen Sie ihn hier raus«, rief Richterin Seiderman von ihrer
Bank aus in dem Versuch, wieder die Kontrolle über den Gerichtssaal
zu bekommen. »Mr. Cavello, Sie haben Ihr Recht verwirkt, diesem
Prozess beizuwohnen.
Sie haben das Gericht missachtet. Sie werden aus diesem
Gerichtssaal ausgeschlossen. Die Geschworenen werden sofort ins
Geschworenenzimmer zurückgehen. Gerichtsdiener!« Das Chaos im
Gerichtssaal nahm kein Ende. Die Geschworenen machten einen völlig
verwirrten Eindruck. Einige Vertreter der Presse rannten bereits
nach draußen, um ihre Redaktionen anzurufen.
»Schafft mich ruhig hier aus! Verbannt mich!« Cavello drehte seinen
Kopf zur Richterin. »Auf diesen Scheiß hier kann ich sowieso
verzichten!«, bellte er quer durch den Gerichtssaal. »Ihr Gericht
ist ein Witz!«
Blut lief aus Cavellos Mund. Sein zuvor sauber gekämmtes Haar war
wild zerzaust. Die Wachen zogen ihn hoch und versuchten, ihn durch
die Seitentür zu zerren. Mit einem Bein war er schon durch die Tür,
als er wild entschlossen seinen Kopf noch einmal herumriss. Was ich
sah, konnte ich kaum glauben.
Dieses Schwein lächelte.
Die Geschworenen waren immer noch völlig durch den Wind.
Schockiert. Niemand konnte sich erinnern, je etwas wie Cavellos
Ausbruch miterlebt zu haben.
»Das Arschloch hat es uns leicht gemacht.« Hector schüttelte den
Kopf. Alle schienen zuzustimmen.
Vielleicht wurde ihm einfach nur klar, wie aussichtslos sein Fall
ist. Da ist er übergeschnappt, dachte Andie.
Die Geschworenen verließen das Gericht früher als geplant, und
Andie hoffte, Jarrod würde unten bereits auf sie warten. Als sie
zum Fahrstuhl geführt wurden, stand der blaue Bus schon
bereit.
In der Eingangshalle hielt Andie nach ihrem Sohn Ausschau. Und da
stand Jarrod! In seinem Basketballerhemd, das den Namen Stephon
Marbury trug. Die Nummer 3. Sobald er sie erblickte, rannte er auf
sie zu und sprang in ihre Arme.
»Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz!« Es war herrlich, sein
glückliches Gesicht zu sehen und ihn zu umarmen und zu küssen.
Cavello und das, was im Gerichtssaal passiert war, zählte nicht
mehr.
»Was ist denn los, Mom?«
Andie drückte ihn doppelt so fest wie nötig. »Keine Sorge,
Kleiner.«
Der Bus stand gleich vor dem Eingang auf der Straße. Andie und
Jarrod stiegen als Erste ein und gingen bis zu einem der hinteren
Sitze durch. Hector und Rosella, die sich manchmal auf Spanisch
miteinander unterhielten, setzten sich in die Reihe davor, O’Flynn
mit einer zusammengerollten Sports
Illustrated in der Hand in die Reihe hinter ihnen.
»Erzähl was von der Schule«, forderte Andie ihn auf.
»Nö.« Er zeigte ein breites Grinsen. »Ich habe Geburtstag, Mom.
Heute keine Schule, okay?«
»Ja, okay.«
Man wollte sie so schnell wie möglich vom Gerichtsgebäude
fortschaffen, was Andie ganz recht war. Ein Marshal stieg ein,
zählte die Geschworenen ab, war aber verwirrt, weil scheinbar einer
zu viel im Bus saß. Mit einem Schlag auf die Karosserie und einem
»Okay« schickte er den Bus auf den Weg. Der Fahrer startete den
Motor.
Andie drehte sich zum Gerichtsgebäude um. Vor dem Eingang stand
Pellisante, der Typ vom FBI. Diese Sache mit Jarrods
Geburtstagsfeier war seine Idee gewesen.
Danke. Andie winkte ihm zu. Ein
anerkennendes Winken, mit nur einem Finger.
Er winkte zurück.
Zwei Polizeiautos fuhren dem Bus auf der Worth Street voraus. Die
Fahrt würde durch den Holland Tunnel führen und bis zum Motel
fünfundzwanzig Minuten dauern. Ein paar der Geschworenen wandten
sich zu Andie um, die sich fragte, wann sie wohl endlich das
Geburtstagsständchen für ihren hübschen Jungen anstimmen
würden.
»Hey, Jarrod.« O’Flynn beugte sich vor und betrachtete das
Stephon-Marbury-Hemd. »Du stehst wohl auf die Knicks?«
»Ja, steh ich drauf. Aber Halo mag ich
noch lieber.«
»Halo?« Es war ein ziemlich bekanntes
Videospiel. Ziemlich gewalttätig mit anschaulichen Kämpfen. O’Flynn
grinste Andie zu. »Deine Mama lässt dich also Halo spielen, hm?«
»Seine Mama sicher nicht«, erwiderte Andie. »Aber seine Tante. Die
knöpfe ich mir allerdings ein andermal vor.«
Ein paar der Geschworenen lachten.
Der Bus bog in die Church Street und blieb an einer roten Ampel
stehen.
Andie blickte aus dem Fenster, dachte über die Party nach und
darüber, was Jarrod für Augen machen würde, wenn er merkte, dass
alle über seinen Geburtstag Bescheid wussten. Sie dachte, die
anderen würden warten, bis sie den Tunnel erreicht hatten, um die
Spannung zu erhöhen. Rosella hatte ein buntes Transparent gemalt.
Happy Birthday, Jarrod. Das würde richtig toll werden.
Rechts von ihnen hielt ein grauer Transporter mit einer großen
Aufschrift. APEX ELECTRICAL SYSTEMS. ASTORIA, QUEENS.
»Und, was hast du geplant, Mom?«, fragte Jarrod. »Du hast doch
immer was geplant.«
Sie wollte ihm schon eine Antwort geben, als sie etwas Seltsames
bemerkte.
Der Fahrer des Transporters sprang heraus. Er trug blaue
Arbeitskleidung, die Baseballkappe auf seinen blonden Locken hatte
er tief in die Stirn gezogen. Noch seltsamer aber war, dass auch
der Beifahrer aus dem Wagen stieg.
Beide begannen loszurennen.
Über die viel befahrene Kreuzung. Fort von ihrem Wagen. Als sie die
andere Straßenseite erreicht hatten, blickten sie zurück. Aber
nicht zu ihrem Transporter.
Zu ihnen! Zum Bus!
»Mom? Hörst du mir überhaupt zu? Erde an Mutter. Hallo.«
Und plötzlich war ihr alles klar! Schlagartig verkrampfte sich ihr
Magen.
»Fahren Sie sofort los!«, schrie Andie dem Fahrer zu. »Fahren Sie
los. Sofort!«
Aber die Ampel war immer noch rot. Und sie steckten im Verkehr
fest. Die anderen unterhielten sich miteinander, ohne zu sehen, was
los war. Jarrod blickte blinzelnd zu seiner Mutter auf.
»O Gott.« Andie erschauderte, unfähig, den Blick von dem
Transporter abzuwenden. Sie legte ihre Arme um Jarrod, zog ihn eng
zu sich heran. Gleich würde etwas Schreckliches
passieren.
»Oh, mein Gott. Nein!«
»Mom?«