37

Ich hatte Hunderte von Bandaufnahmen und Telefonmitschnitten als Teil meiner Zeugenvernehmung zusammengestellt, doch wir hatten beschlossen, mit meiner eigenen Geschichte anzufangen. Mit dem, was ich selbst gesehen hatte.

»Würden Sie dem Gericht die Ereignisse in Zusammenhang mit Dominic Cavellos Verhaftung beschreiben?«, bat mich Goldenberger.

Ich blickte zu Carol, Manny Olivas Frau, die in der ersten Reihe saß. Ich war froh, dass sie hier war.
»Wir hatten erfahren, dass Cavello am 23. Juli 2004 an der Hochzeit seiner Nichte im South Fork Club in Montauk teilnehmen würde. Wir hatten mehrere offene Haftbefehle.«
»Sie hatten bereits vorher versucht, Mr. Cavello zu verhaften?«
»Ja. Cavello war allerdings abgetaucht. Es bestand Gefahr, dass er das Land verließ.«
»Also haben Sie aufgrund dieses Hinweises die Hochzeit beschattet. Können Sie dem Gericht etwas über die anderen Agenten sagen, die Ihnen dort geholfen haben?«
»Sicher.« Ich versuchte, wenigstens einen Teil meiner Gefühle zu unterdrücken, als ich begann, über Manny zu erzählen. »Manny Oliva war drei Jahre lang mein Stellvertreter in der C10. Er hat direkt nach seiner Ausbildung in Quantico bei mir angefangen und sich mit meiner Unterstützung nach oben gearbeitet. Er und seine Frau hatten gerade erst Zwillinge bekommen.«
»Und Edward C. Sinclair war auch mit Ihnen am Tatort gewesen?«
»Ed Sinclair war in unserer Einheit ein vorbildlicher Mitarbeiter.« Ich nickte seiner Frau Maryanne und seinem Sohn Bart zu, die neben Carol Oliva saßen.
»Können Sie uns die Szene etwas veranschaulichen, Agent Pellisante?« Joel Goldenberger stellte eine vergrößerte Luftaufnahme vom Tatort auf eine Staffelei gegenüber vom Zeugenstand. »Wo genau hielten sich die Agenten Oliva und Sinclair während der Beschattung auf?«
Ich ging zur Staffelei und griff zu einem Zeigestab. »Sie waren am Strand außerhalb des Clubgeländes, um Fluchtwege abzuschneiden.« Ich beschrieb, wie Cavello sich als alter Mann im Rollstuhl verkleidet hatte. Wie er aufgesprungen war, als meine Agenten hereingekommen waren, und versucht hatte zu fliehen. Wie er einen meiner Agenten, Steve Taylor, der als Kellner eingesetzt gewesen war, erschossen hatte.
»Er rannte Richtung Strand hinunter. Manny und Ed waren in Position. Hier. Ich gab per Funk durch, dass er den Weg in ihre Richtung eingeschlagen hatte.«
»Können Sie beschreiben, was als Nächstes passiert ist? Ich weiß, dass es schwierig für Sie ist, Agent Pellisante, ebenso wie für die hier anwesenden Familienangehören der Agenten.«
»Ich hörte mehrere Schüsse.« Ich presste die Zähne aufeinander. »Ich zählte … zwei schnelle hintereinander, dann vier weitere. Ich rannte von meiner Position aus hinunter über die Dünen und sah die beiden Männer im Sand liegen.«
Im Gerichtssaal herrschte absolute Stille. Als ich meinen Blick von der Staffelei abwandte, waren alle Augen auf mich gerichtet.
»Was haben Sie dann getan?«, fragte Goldenberger weiter.
»Ich bin zu den beiden Männern gegangen.« Ich räusperte mich. »Manny war tot. Kopfschuss. Ed war in der Brust und am Hals getroffen worden. Er blutete stark. Mir war klar, dass er im Sterben lag.«
»Und haben Sie Dominic Cavello gesehen?«
»Er rannte am Strand entlang und versuchte zu fliehen. Er war an der Schulter getroffen worden. Ich erkannte etwas, das wie eine Waffe aussah. Er rannte auf einen Hubschrauber zu, der auf einer Landzunge stand. Ich forderte per Funk Hilfe an, und ein Hubschrauber, der auf einem Schiff der Küstenwache wartete, sollte Cavellos Fluchtweg blockieren. Dann rannte ich ihm hinterher und schoss, wobei ich ihn am Schenkel traf. Während ich nach Hilfe gefunkt hatte, muss er die Waffe ins Meer geschleudert haben.«
»Sie haben also keine Waffe mehr gefunden?«
»Nein.« Ich schüttelte den Kopf. »Die war nicht mehr zu entdecken.«
»Aber Sie haben keinen Zweifel, wer Ihre Agenten getötet hat?«
»Nein, absolut nicht.« Wieder schüttelte ich den Kopf und blickte dem Angeklagten direkt ins Gesicht. »Dominic Cavello. Als ich diese Schüsse hörte, befand sich sonst niemand in der Nähe von Manny und Ed. Und die Kugel, die aus Cavellos Schulter entfernt wurde, stammte aus Eds Waffe.«
»Nur um hundertprozentig sicher zu sein« – Goldenberger drehte sich um und sprach mit erhobener Stimme weiter –, »sehen Sie den Mann, den Sie an dem bewussten Tag in den Dünen verfolgt haben? Den Mann, der, wie Sie beobachtet haben, von den Leichen der Agenten fortgelaufen ist?«
»Das war er«, antwortete ich und deutete auf die zweite Reihe. »Dominic Cavello.«
Während der ganzen Sitzung hatte Cavello stoisch geradeaus geblickt, doch jetzt hatte er sich mir zugewandt. Gleich sollte ich erfahren, warum.
Plötzlich sprang er nämlich von seinem Stuhl auf, zog sich über den Tisch wie ein Wahnsinniger. Sein Gesicht war rot angelaufen, die Adern an seinem Hals drohten zu platzen.
»Pellisante, du Arschloch! Du dreckiger Hurensohn! Du verlogenes Stück Scheiße!«
Es ging zu wie im Irrenhaus. »Ihr verlogenen Schweine!«, bellte Cavello mit heiserer Stimme. Er knallte mit der Faust auf den Tisch, ließ Blätter und Dokumente aufflattern.
»Und ich scheiß auf dieses Gericht!« Er funkelte die Richterin an. »Sie haben keine Macht über mich. Sie glauben, Sie kriegen mich, weil Sie ein paar von meinen alten Feinden bestochen haben, damit sie Ihnen Ihren Henkelmann tragen. Aber Sie haben einen Scheißdreck. Ich habe Sie!«
Die Marshals eilten herbei, zwei von ihnen schnappten sich Cavello und drückten ihn zu Boden. Die Zuschauer schrien, einige liefen aus dem Saal.
Cavello wehrte sich wie ein rasendes Tier. »Du kriegst mich nicht, Pellisante! Ich kriege dich!«
Als ein dritter Wachmann zu Hilfe kam, konnten sie ihn endlich bezwingen. Zwei von ihnen drückten ihn nach unten, während ihm der Dritte ein Paar Handschellen anlegte, ohne dass er etwas von seiner Stimmgewalt eingebüßt hätte.
»Dieses Gericht ist ein Witz! Die reine Verarschung! Ihr werdet mich nie verurteilen, ganz egal, wie viele Verräter und Telefonmitschnitte ihr habt. Um deine Freunde ist es schade, Nicky! Aber wer auch immer sie getötet hat, ich würde ihn auf die Lippen küssen.«
»Schaffen Sie ihn hier raus«, rief Richterin Seiderman von ihrer Bank aus in dem Versuch, wieder die Kontrolle über den Gerichtssaal zu bekommen. »Mr. Cavello, Sie haben Ihr Recht verwirkt, diesem Prozess beizuwohnen.
Sie haben das Gericht missachtet. Sie werden aus diesem Gerichtssaal ausgeschlossen. Die Geschworenen werden sofort ins Geschworenenzimmer zurückgehen. Gerichtsdiener!« Das Chaos im Gerichtssaal nahm kein Ende. Die Geschworenen machten einen völlig verwirrten Eindruck. Einige Vertreter der Presse rannten bereits nach draußen, um ihre Redaktionen anzurufen.
»Schafft mich ruhig hier aus! Verbannt mich!« Cavello drehte seinen Kopf zur Richterin. »Auf diesen Scheiß hier kann ich sowieso verzichten!«, bellte er quer durch den Gerichtssaal. »Ihr Gericht ist ein Witz!«
Blut lief aus Cavellos Mund. Sein zuvor sauber gekämmtes Haar war wild zerzaust. Die Wachen zogen ihn hoch und versuchten, ihn durch die Seitentür zu zerren. Mit einem Bein war er schon durch die Tür, als er wild entschlossen seinen Kopf noch einmal herumriss. Was ich sah, konnte ich kaum glauben.
Dieses Schwein lächelte.
Die Geschworenen waren immer noch völlig durch den Wind. Schockiert. Niemand konnte sich erinnern, je etwas wie Cavellos Ausbruch miterlebt zu haben.
»Das Arschloch hat es uns leicht gemacht.« Hector schüttelte den Kopf. Alle schienen zuzustimmen.
Vielleicht wurde ihm einfach nur klar, wie aussichtslos sein Fall ist. Da ist er übergeschnappt, dachte Andie.
Die Geschworenen verließen das Gericht früher als geplant, und Andie hoffte, Jarrod würde unten bereits auf sie warten. Als sie zum Fahrstuhl geführt wurden, stand der blaue Bus schon bereit.
In der Eingangshalle hielt Andie nach ihrem Sohn Ausschau. Und da stand Jarrod! In seinem Basketballerhemd, das den Namen Stephon Marbury trug. Die Nummer 3. Sobald er sie erblickte, rannte er auf sie zu und sprang in ihre Arme.
»Alles Gute zum Geburtstag, mein Schatz!« Es war herrlich, sein glückliches Gesicht zu sehen und ihn zu umarmen und zu küssen. Cavello und das, was im Gerichtssaal passiert war, zählte nicht mehr.
»Was ist denn los, Mom?«
Andie drückte ihn doppelt so fest wie nötig. »Keine Sorge, Kleiner.«
Der Bus stand gleich vor dem Eingang auf der Straße. Andie und Jarrod stiegen als Erste ein und gingen bis zu einem der hinteren Sitze durch. Hector und Rosella, die sich manchmal auf Spanisch miteinander unterhielten, setzten sich in die Reihe davor, O’Flynn mit einer zusammengerollten Sports Illustrated in der Hand in die Reihe hinter ihnen.
»Erzähl was von der Schule«, forderte Andie ihn auf.
»Nö.« Er zeigte ein breites Grinsen. »Ich habe Geburtstag, Mom. Heute keine Schule, okay?«
»Ja, okay.«
Man wollte sie so schnell wie möglich vom Gerichtsgebäude fortschaffen, was Andie ganz recht war. Ein Marshal stieg ein, zählte die Geschworenen ab, war aber verwirrt, weil scheinbar einer zu viel im Bus saß. Mit einem Schlag auf die Karosserie und einem »Okay« schickte er den Bus auf den Weg. Der Fahrer startete den Motor.
Andie drehte sich zum Gerichtsgebäude um. Vor dem Eingang stand Pellisante, der Typ vom FBI. Diese Sache mit Jarrods Geburtstagsfeier war seine Idee gewesen.
Danke. Andie winkte ihm zu. Ein anerkennendes Winken, mit nur einem Finger.
Er winkte zurück.
Zwei Polizeiautos fuhren dem Bus auf der Worth Street voraus. Die Fahrt würde durch den Holland Tunnel führen und bis zum Motel fünfundzwanzig Minuten dauern. Ein paar der Geschworenen wandten sich zu Andie um, die sich fragte, wann sie wohl endlich das Geburtstagsständchen für ihren hübschen Jungen anstimmen würden.
»Hey, Jarrod.« O’Flynn beugte sich vor und betrachtete das Stephon-Marbury-Hemd. »Du stehst wohl auf die Knicks?«
»Ja, steh ich drauf. Aber Halo mag ich noch lieber.«
»Halo?« Es war ein ziemlich bekanntes Videospiel. Ziemlich gewalttätig mit anschaulichen Kämpfen. O’Flynn grinste Andie zu. »Deine Mama lässt dich also Halo spielen, hm?«
»Seine Mama sicher nicht«, erwiderte Andie. »Aber seine Tante. Die knöpfe ich mir allerdings ein andermal vor.«
Ein paar der Geschworenen lachten.
Der Bus bog in die Church Street und blieb an einer roten Ampel stehen.
Andie blickte aus dem Fenster, dachte über die Party nach und darüber, was Jarrod für Augen machen würde, wenn er merkte, dass alle über seinen Geburtstag Bescheid wussten. Sie dachte, die anderen würden warten, bis sie den Tunnel erreicht hatten, um die Spannung zu erhöhen. Rosella hatte ein buntes Transparent gemalt. Happy Birthday, Jarrod. Das würde richtig toll werden.
Rechts von ihnen hielt ein grauer Transporter mit einer großen Aufschrift. APEX ELECTRICAL SYSTEMS. ASTORIA, QUEENS.
»Und, was hast du geplant, Mom?«, fragte Jarrod. »Du hast doch immer was geplant.«
Sie wollte ihm schon eine Antwort geben, als sie etwas Seltsames bemerkte.
Der Fahrer des Transporters sprang heraus. Er trug blaue Arbeitskleidung, die Baseballkappe auf seinen blonden Locken hatte er tief in die Stirn gezogen. Noch seltsamer aber war, dass auch der Beifahrer aus dem Wagen stieg.
Beide begannen loszurennen.
Über die viel befahrene Kreuzung. Fort von ihrem Wagen. Als sie die andere Straßenseite erreicht hatten, blickten sie zurück. Aber nicht zu ihrem Transporter.
Zu ihnen! Zum Bus!
»Mom? Hörst du mir überhaupt zu? Erde an Mutter. Hallo.«
Und plötzlich war ihr alles klar! Schlagartig verkrampfte sich ihr Magen.
»Fahren Sie sofort los!«, schrie Andie dem Fahrer zu. »Fahren Sie los. Sofort!«
Aber die Ampel war immer noch rot. Und sie steckten im Verkehr fest. Die anderen unterhielten sich miteinander, ohne zu sehen, was los war. Jarrod blickte blinzelnd zu seiner Mutter auf.
»O Gott.« Andie erschauderte, unfähig, den Blick von dem Transporter abzuwenden. Sie legte ihre Arme um Jarrod, zog ihn eng zu sich heran. Gleich würde etwas Schreckliches passieren.
»Oh, mein Gott. Nein!«
»Mom?«

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